“Hier wohnte” steht auf den meisten der mehr als 600 Stolpersteine in Stuttgart, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern, dort wo diese ihren letzten selbst gewählten langjährigen Lebensmittelpunkt hatten. Dann folgen Name und Geburtsjahr, denn: “Ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sein Name vergessen ist.” Und schließlich werden in aller Kürze Daten zu der Verfolgung angegeben, die dieser Mensch ertragen musste. Stolpersteine erinnern an Menschen und klagen die Verbrechen des NS-Regimes an. Selbst wenn deshalb “Flucht in den Tod” für Selbstmord auf einem Stolperstein steht, heißt dies nicht, dass Bewohner oder Eigentümer des Hauses dafür verantwortlich sind, denn in der Regel geschah dies angesichts der bevorstehenden Deportation. Wer auf öffentlichen Gehwegen in Stuttgart einen Stolperstein sieht und mehr darüber erfahren will, findet hier Biografien zu den meisten Opfern.
Am Dienstag, 22. November ab 13 Uhr und am Mittwoch, 23. November ab 9 Uhr verlegt Gunter Demnig in acht Stuttgarter Stadtbezirken 35 weitere Stolpersteine, beispielsweise
-in Mitte, Langestr. 12B, für Martha Levi, der Witwe von einem der bedeutendsten Antiquare in Stuttgart. Ihr Haus war etwa mit Bildern von Reinhold Nägele, Max Ackermann und Hans Purrmann geschmückt. In Theresienstadt verlor sie ihr Leben.
-im Westen, Rosenbergstr. 149, für Bertha Reis und ihre Tochter Hedwig Neuhäuser, die 1936 das Haus erworben hatte und dann mit ihrer Mutter dort eine Wohnung bezog. Beide wurden nach Theresienstadt deportiert, wo Bertha Reis den Tod fand, Hedwig Neuhäuser wurde schließlich zur Ermordung nach Auschwitz transportiert. 1936 hatte Hedwig Neuhäuser mehrere Gegenstände aus Familienbesitz zu einer Auktion gegeben, darunter ein Räuchergefäß aus dem Jahr 1770 und eine Messingdose. Beide wurden vom damaligen Landesgewerbemuseum erworben und sind heute in der Sammlung des Landesmuseums Württemberg. Diese verfolgungsbedingt entzogenen Objekte sollten den Nachkommen von Frau Neuhäuser zurückgegeben werden, doch kam kein Kontakt zustande. Das Landesmuseum Württemberg stiftet deshalb den Stolperstein für Hedwig Neuhäuser und wird mit der Direktorin Frau Professor Dr. Cornelia Ewigleben und der zuständigen Provenienzforscherin Dr. Anja Heuß bei der Verlegung anwesend sein.
Hinweis: Das Landesmuseum Württemberg gibt noch eine eigene Pressemitteilung zu Hedwig Neuhäuser heraus.
-im Norden, Am Weißenhof 36, für Elisabeth Stein, die 1895 als Jüdin geboren worden war, 1928 aber aus innerer Überzeugung in die evangelische Kirche eintrat. Wegen ihrer jüdischen Abstammung verlor sie 1937 ihre Stelle bei der Allianz-Lebensversicherungs AG und bald darauf auch ihrer Wohnung bei dem gleichgeschalteten Bau- und Heimstättenverein. Sie kam nun in ein “Judenhaus” in der Zellerstraße. Obwohl sie fast blind war, bot sie sich der Markusgemeinde an und war zu allen Arbeiten dankbar bereit. Beim ersten Aufruf zur Deportation nach Theresienstadt konnte Rudi Daur, Pfarrer der Markuskirche, mit einer Eingabe noch helfen. Doch für den Transport im April 1942 nach Izbica war jede Bemühung umsonst.
-in Bad Cannstatt, Reichenbachstr. 38, für Eugen Plappert, in dessen Lebenslauf Notzucht bis Diebstahl und Hehlerei bis Gewalt zu finden waren. Doch hatte er diese Straftaten längst restlos verbüßt, als er im März 1937 unter Missachtung elementarer Menschenrechte in polizeiliche Vorbeugehaft genommen wurde. Fünf Jahre verbrachte er in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg, bis er von dort 1942 im Rahmen der Aktion 14f13 in die Tötungsanstalt Bernburg kam, wo er mit Kohlenmonoxid erstickt wurde. Bei der Verhaftung nachgeholfen dürfte der frühere Nachbar Christian Wirth haben, der später Inspekteur der “Euthanasie”-Anstalten, Kommandant des Vernichtungslager Belzec und Oberbefehlshaber mehrerer anderer Vernichtungslager wurde. Für die Stolperstein-Initiative in Bad Cannstatt warf sich bei diesem Stolperstein die Frage auf, ob als Opfer nur gelten darf, wer unschuldig ist.
Einen Schwerpunkt bilden erneut die Opfer der NS-“Euthanasie”, beispielsweise
-im Osten, Ameisenbergstr. 24, Erich Ruthardt, der geistig und körperlich schwerbehindert war. Von seiner Familie wurde er liebevoll gepflegt. Vermutlich wurden die Eltern massiv unter Druck gesetzt, damit sie den 24-Jährigen in eine Heilanstalt gaben, wo ihnen eine bestmöglichste Pflege versprochen worden war. Doch die Realität sah anders aus: Einen Tag nach Ankunft in der Landespflegeanstalt Eichberg war Erich Ruthardt angeblich an “Herzschwäche” verstorben. Man teilte den Eltern mit, dass er “in unserer Anstalt von seinem unheilbaren Leiden durch einen sanften Tod erlöst worden ist.”
-im Süden, Schickhardtstr. 25, Marta Bliesemann, die im Juni 1927 im Bürgerhospital Stuttgart eingewiesen und von dort nach Winnental gebracht wurde. Ihr Name steht auf der Liste zur Verlegung nach Grafeneck für den 30. Mai 1940, wo sie ermordet wird (Aktion T4).
Hinweis: Jede Stolperstein-Initiative führt ihre Verlegungen in eigener Regie
und mit eigenem Programm durch. Mehr über das Schicksal der Opfer und
über die Verlegung selbst erfahren Sie deshalb bei der zuständigen Initiative.
Den Verlegungsplan finden Sie weiter unten, die Kontaktadressen stehen hier.
Im Rahmen der Verlegung laden die Stuttgarter Stolperstein-Initiativen zu drei Veranstaltungen ein:
“Spuren der NS-Krankenmorde in Stuttgart – ein Ausblick aus Sicht der Stolpersteininitiativen”
Am Donnerstag, 24. November, 19 Uhr lädt der Arbeitskreis “Euthanasie” im Stuttgarter Rathaus, 4. Obergeschoss (Mittlerer Saal), zu einer Diskussionsveranstaltung. Verschiedene Referenten werden ihre Sicht auf die Erinnerung an die Greueltaten des NS-Gesundheitsbürokratie darstellen. Es geht darum zu überlegen, wie das Gedenken an die Morde an Kranken, Behinderten und so genannten Asozialen heute praktiziert werden soll, damit ein ähnlicher Rückfall in die Barbarei nie wieder geschehen kann. Eine ausführliche Einladung finden Sie hier
Buchvorstellung “Verlegt. Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart”
Elke Martin wird am Dienstag, 29. November 2011, Beginn 19 Uhr im Staatsarchiv Ludwigsburg, Arsenalplatz 3, ihr neues Buch “Verlegt. Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart” in einer gemeinsamen Veranstaltung der AnStifter, des Staatsarchivs Ludwigsburg und der Stolpersteine Ludwigsburg vorstellen.
Gedenken an die erste Deportation von Juden aus Württemberg vor 70 Jahren
Vor 70 Jahren, am 1. Dezember 1941, wurden tausend Württemberger Juden, unter ihnen viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter nach Riga deportiert, wo sie erschossen oder in weitere Lager verschleppt wurden. Nur sehr wenige überlebten. Am Abend des 1. Dezember 2011 wird daran eine Zentrale Gedenkveranstaltung um 20:15 Uhr in der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ am Nordbahnhof erinnern.
Die Stuttgarter Stolpersteininitiativen möchten darüber hinaus einen eigenen Beitrag leisten, indem sie den Ort ins öffentliche Bewusstsein rufen, an dem diese und die folgenden Deportationen organisiert wurden, im „Judenreferat“ der Gestapozentrale in der Dorotheenstraße 10. Am Donnerstag, 1. Dezember 2011, um 18 Uhr werden deshalb vor dem ehemaligen „Hotel Silber“ bei einer etwa halbstündigen Veranstaltung Roland Maier, Mitautor des Buches Stuttgarter NS-Täter, über die Organisation der Deportation in der Dorotheenstraße sprechen sowie Mitglieder der Stolperstein-Initiativen die Namen ehemaliger Stuttgarterinnen und Stuttgarter verlesen, die am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert worden waren und für die bereits Stolpersteine verlegt wurden. Die Veranstaltung wird musikalisch eingerahmt durch den Freien Chor Stuttgart.
Verlegungsplan für Stolpersteine in Stuttgart am 22. und 23. November 2011
Stolpersteine für Stuttgart am Dienstag, 22. November 2011 (Uhrzeit-Steinverlegung):
13:00 S-Weilimdorf Solitudestr. 283 – 1 Stein für Hermann Hildinger
13:15 S-Weilimdorf Goslarerstr. 95 – 1 Stein für Gottlieb Wurster
14:00 Vaihingen/Rohr Goldregenweg 41 – 1 Stein für Gerhard Durner
14:30 S-Süd Schickhardtstr. 25 – 1 Stein für Marta Bliesemann
14:50 S-West Hegelstraße 49 – 1 Stein für Otto Rothschild
15:10 S-Nord Sattlerstr. 25 – 2 Steine für Friedrich und Helene Alexander
15:30 S-Nord Seestraße 114 – 3 Steine für Julia Hammel, Siegfried und Irma Dreyfuss
15:45 S-Mitte Gymnasiumstr. 23 – 2 Steine für Dr. Abraham Schweizer und Aron Schweizer
16:00 S-Mitte Lange Straße 12B – 1 Stein für Martha Levi
Stolpersteine für Stuttgart am Mittwoch, 23. November 2011 (Uhrzeit-Steinverlegung):
9:00 S-Ost Gablenberger Hauptstr. 40 – 3 Steine für Otto, Erika und Hannelore Horland
9:20 S-Ost Ameisenbergstr. 24 – 1 Stein für Erich Ruthardt
9:40 S-Mitte Urbanstr. 66 – 1 Stein für Klara Levi
10:00 S-Mitte Rosenstr. 35 – 5 Steine für Elise Amalie und Margot Horwitz, Henriette Ottenheimer, Ernst und Rebekka Sander
10:30 S-West Rosenbergstr. 149 – 2 Steine für Hedwig Neuhäuser und Bertha Reis
10:55 S-Nord Herdweg 37 – 1 Stein für Anna Schwabacher
11:15 S-Nord Am Weißenhof 36 – 1 Stein für Elisabeth Stein
MITTAGSPAUSE im Naturfreundehaus Steinbergle am Killesberg, Stresemannstr. 8
13:00 Bad Cannstatt Reichenbachstr. 38 – 1 Stein für Eugen Plappert
13:20 Bad Cannstatt Veielbrunnenweg 90A – 1 Stein für Wilhelm Seybold
13:40 Bad Cannstatt Kegelenstr. 1 – 1 Stein für Hermann Mannheimer
14:00 Bad Cannstatt Seelbergstr. 24 – 1 Stein für Karl Dierer
Seelbergstr. 25 – 1 Stein für Israel Bresgi
14:45 Bad Cannstatt Wörishofener Str. 22 – 1 Stein für Ida Wormser
15:00 Bad Cannstatt Reichenhaller Str. 11 – 1 Stein für Emma Butz
15:15 Bad Cannstatt Martin Luther-Str. 26 – 1 Stein für Elise Maria Hörz
Die angegebenen Uhrzeiten können nur eine grobe Orientierung für den geplanten Zeitpunkt der Verlegung sein – Verschiebungen lassen sich trotz sorgfältiger Planung leider nicht ganz ausschließen – Änderungen sind möglich – Wer bei einer Steinverlegung dabei sein will, sollte sich deshalb möglichst frühzeitig am Verlegungsort einfinden! Aufgrund des eng bemessenen Zeitplans kann Gunter Demnig an den vor Ort stattfindenden Rahmenveranstaltungen jeweils nur kurz teilnehmen! Weitere Infos über die Stadtteilinitiativen