Das Ehepaar Karpe
Franz Karpe wurde am 8. September 1871 in Fürth geboren. Nach seiner Ausbildung als Kaufmann für technische Webwaren und Fotoapparate eröffnete er 1935 in der Schillerstraße 16 in Bad Cannstatt ein Foto-Fachgeschäft. Im Zuge der sog. „Arisierung“ musste er 1937 den Firmensitz dort aufgeben. Er wohnte zu dieser Zeit noch außerhalb Stuttgarts. Das Stuttgarter Adressbuch weist ab 1938 seinen neuen Wohnsitz als Mieter und Haushaltsvorstand in der Seestraße 64 aus. Beim Einzug ist Franz Karpe 67 Jahre alt.
Frieda Karpe, sein Ehefrau, geb. Ordenstein wurde am 8. August 1881 in Nürnberg geboren, sie hilft im Geschäft und führt den Haushalt. Die Ehe blieb kinderlos. Beim Umzug in die Seestraße 64 ist sie 57 Jahre alt.
Auch wenn die Familie erstaunlicherweise noch weiter im Erdgeschoss Fotoartikel zum Verkauf anbietet, ändern sich die Zeiten. Immer mehr verschärfen sich Gesetze und schikanöse Verordnungen gegen die jüdische Bevölkerung. Im großbürgerlich gebauten Anwesen Seestraße 64, das einem jüdischen Vermieter gehört, müssen beide miterleben, wie mehr und mehr jüdische Familien einquartiert werden und in qualvoller Enge eingepfercht leben. Dann, am 5. März 1942 haben sie auf Anordnung der Stadtverwaltung ihre Wohnung zu räumen.
Mit nur wenig Verbliebenem an Hab und Gut werden die zwei mit weiteren 48 Stuttgarter Glaubensgefährten nach Bad. Buchau zwangsumgesiedelt, und dort in bereits amtlich ausgesuchten „Judenhäuser“ provisorisch untergebracht. Es dauert nur 5 Monaten am neuen Wohnsitz, bis sie die Verfügung der Gestapo erreicht, sich im Sammellager Killesberg einzufinden. In ihrer alten Heimatstadt, in Stuttgart auf dem Killesberg, verbringen sie drei qualvolle Tage mit über 1000 vor allem älteren Juden aus Stuttgart und Württemberg. Von dort werden sie am 22. August nach Theresienstadt deportiert Beim Übertritt der Grenze nach Tschechien verlieren sie die Staatsbürgerschaft
Und auch in Theresienstadt ist ihr Leidensweg noch nicht beendet: Nach einem Monat Übergangsfrist im KZ Theresienstadt wird das Ehepaar Karpe am 22. September 1942 laut Akteneintrag der KZ-Verwaltung nach Treblinka deportiert, dort verliert sich ihre Spur. Die amtlichen Nachkriegsdokumente erklären Franz und Frieda Karpe für „verschollen.“
Das Haus in der Seestraße 64 hat in der Lebensgeschichte vieler jüdischer Opfer des Nazi-Regimes eine besondere Rolle gespielt. Für viele jüdische Familien, Alleinstehende und sowie jüdische Zwangsarbeiter war es die letzte Bleibe vor der Deportation.
Mit dem Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden’ vom 01.04.1939. hatte die städtische Verwaltung eine Handhabe, jüdische Mieter zu entrechten, sie anderweitig einzuquartieren, ihnen weniger an Wohnraum zuzuweisen, sie in Anwesen von jüdischen Besitzern unterzubringen, deren Auswanderung bevorstand, die enteignet oder genötigt wurden, ihren Besitz zu verkaufen.
Häufig wurde das Deutsche Reich Besitzer eines solchen Anwesens, meist verkaufte es weiter, sei es an Gliederungen der NSDAP, der Stadt oder auch an der Partei nahestehende Privatpersonen.
Für das Anwesen Seestraße 64 belegen allein die Adressbücher Stuttgarts für den Zeitraum der Jahre 1937 bis 1943 diese unmenschlichen Entwicklungen.
Danach ist Siegfried Schwarzenberger der Besitzer, er hatte das Haus am 3. März 1919 gekauft; und wohnte dort bis zu seinem Tode am 17.04. 1941. Seiner Tochter Elfriede gelingt noch die Auswanderung in die USA . Noch vor seinem Tod wird Schwarzenbergers Vermögen durch Verfallserklärung laut einem Gesetz aus dem Jahre 1933 eingezogen. Das Deutsche Reich wird am 08.08. 1940 Eigentümer.
Damit sind die Voraussetzungen für die vorübergehende Zwangseinweisung von Stuttgarter Juden gegeben. Wohnten im Jahre 1938 nur 6 Familien dort, so werden bei gleichem Raumangebot in den Folgejahren 1940 12 Familien, im Jahre darauf 16 Familien und 1942 schließlich 13 Familien hier einquartiert und zusammengepfercht. Die zwei nicht-jüdischen Haushalte bleiben davon unberührt; sie wohnen weiter wie bisher.
Im Jahre 1943 hat sich die Situation grundlegend geändert: Nun wohnen wieder nur sechs Mietparteien hier; von den vier neu Eingezogenen sind drei Verwaltungsbeamte. Alle jüdischen Familien, die hier gewohnt haben oder zu wohnen gezwungen wurden, sind entweder ausgewandert, in die weitere Umgebung Stuttgarts zwangsumgesiedelt oder deportiert. Am 26.Juli 1944 wird das Haus bei einem Bombenangriff total zerstört.
Recherche und Text: Josef Klegraf, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord.
Quellen: Stadtarchiv Stuttgart, Staatsarchiv Ludwigsburg.
ZEITGENOSSE DEMNIG
Für die SWR-2-Reihe "Zeitgenossen" hat Andreas Langen mit Gunter Demnig, Erfinder der Stolpersteine, gesprochen...
Podcast "gedenkworte" Akademie für gesprochenes Wort - Uta-Kutter- Stiftung und Initiative Stolpersteine Stuttgart-Ost
Das Sprecherensemble der Akademie für gesprochenes Wort spricht die Geschichte der Personen hinter den Stoplersteinen. Ein gemeinsames Projekt der Akademie für gesprochenes Wort und der Initiative Stolpersteine Stuttgart-Ost
STOLPERBLICK - StolperKunst in Corona-Zeiten
Künstler*innen bleiben gerade auch in diesen Zeiten präsent und begegnen einem konkreten Stuttgarter Stolperstein oder einem anderen Ort, der in Stuttgart an die Verfolgungen in der NS-Zeit erinnert
http://www.stolperkunst.de/stolperblick-stolperkunst-in-coronazeiten/
Silke Arning auf SWR2 über das Los der Zwangsarbeiter im Lager auf der Schlotwiese
StolperKunst belebt Erinnerung
...ein Projekt der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen gegen Geschichtsvergessenheit!
Warum Stolpersteine?
Für Hannelore Levi und ihre Eltern Berta und Ernst, letztere 1942 in Riga ermordet, wurden im Herbst 2017 Stolpersteine in Stuttgart verlegt. Pip McCosh (*1965, Neuseeland), Tochter von Hannelore Levi (*1928, Stuttgart, gest. 2012, Neuseeland) schrieb am 22. Januar 2018 eine e-mail, die anschaulich zeigt, dass Stolpersteine ihre Schleifen bis ins Hier und Jetzt ziehen...
Übersichtskarte der Stolpersteine
in der Reihe TÜBINGER JUDAISTISCHE STUDIEN erschienen:
Briefe zur JÜDISCHEN EHEVERMITTLUNG 1911-1921
Publikationen aus dem Stuttgarter Norden
Broschüre über „Else Kahn, geb. Jeselsohn. Nachgetragene Würde – nachgetragene Liebe. Eine Lebensgeschichte“
Broschüre „Der Killesberg unterm Hakenkreuz"
Der Stuttgarter "Judenladen": Ein fast vergessenes Stück Stuttgarter Stadtgeschichte
Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern
Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier
Das jüdische Zwangsaltenheim in Eschenau und seine Bewohner
Herausgegeben von Martin Ulmer und Martin Ritter
Aus dem KZ Theresienstadt: "Was mich aufrecht erhielt, war die Post ..."
Postkarten aus Theresienstadt von Gertrud Nast-Kolb an ihre Tochter Ilse in Stuttgart (1944-1945)
heraus-gegeben von Margot Weiß
Verlegt
Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart
heraugegeben von Elke Martin
Ernst Köhler
im August 1940 in Grafeneck ermordet - weil er krank war
weiter
Walter, Hanna, Sofie, Rose, Erich, Auguste, Albert und Werner Levi
die ganze Familie wurde von den Nazis auf erschreckend gründliche Weise vernichtet weiter
Max und Mathilde Henle
Letzter frei gewählter Wohnort:
Hohentwielstrasse 146 B, Stuttgart Süd
Lydia Heilborn und ihre Tochter Gertrud
die Tochter in Grafeneck ermordet, die Mutter in Theresienstadt weiter
Hermine Wertheimer
zwangsevakuiert, deportiert und enteignet weiter