Sigmund Wolf, Schottstr. 103
Die nachgewachsenen Generationen wissen heute zumeist recht viel über die barbarische Zeit des Nationalsozialismus. Sie wissen, dass mit dem 30. Januar 1933, dem Tag der so genannten Machtergreifung, alles begann und dass zwölf Jahre später weltweit Abermillionen Tote zu beklagen waren – umgekommen auf den Schlachtfeldern, umgebracht in KZs, Lagern und Gefängnissen, gestorben im Bombenhagel…
Doch wie wenig wissen wir zumeist über das Schicksal Einzelner, über das Leiden der Opfer, an die heute nicht einmal mehr ein Grabstein wenigstens an den Namen erinnert. Was wissen wir über den Erbauer dieses Hauses Schottstraße 103, über diesen Sigmund Wolf, der im Vergleich zu den meisten anderen jüdischen Stuttgartern relativ spät, nämlich im Januar 1944 erst nach Theresienstadt und dann im Mai 1944, ein Jahr vor Kriegsende, nach Auschwitz deportiert wurde, wo sich seine Spur in den Gaskammern des KZs verliert?
Es ist nicht allzu viel, was heute noch zu ermitteln ist. Aber es muss ein Mann gewesen sein, der ein großes Vertrauen in sich und in sein Land gesetzt hat. Wie anders will man interpretieren, dass er als knapp Zweiundsechzigjähriger am 31. Januar 1933 – also einen Tag nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten – das Baugesuch für das Objekt Schottstraße 103 unterzeichnete? Welch großes Vertrauen muss er – trotz aller schlimmen Vorzeichen gerade auch für Juden – in die Zukunft gesetzt haben?
Der Kaufmann Sigmund Wolf war 1920 mit seiner deutlich jüngeren Frau Hedwig geb. Weichmann (* 5. 11. 1884 in Sprottau/Schlesien) nach Stuttgart gekommen. Die Beiden hatten im Juli 1916, also mitten im 1. Weltkrieg, in Straßburg geheiratet. Warum das kinderlose Paar dann nach Stuttgart umzog und woher es 1920 kam, bleibt im Dunkeln.
Sigmund Wolf stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Neumarkt in der Oberpfalz, wo er am 3. März 1871 als zweites von insgesamt fünf Geschwistern zur Welt gekommen war. Die Familie Wolf spielte seit mehreren Generationen in der Neumarkter Textilbranche („Damen-Jacken, Jaquets & Paletots“) eine führende Rolle, und es steht zu vermuten, dass auch der junge Sigmund Wolf in frühen Jahren mit in diesem Geschäft tätig war.
Doch hierzu gibt es keine Informationen mehr. Ebenso ist ungeklärt, welcher Tätigkeit Sigmund Wolf hier in Stuttgart nachging. Er und seine Ehefrau wohnten zunächst in der Hegelstraße 23B in der Erdgeschosswohnung, bis sie dann 1922 in die Moltkestraße 94 umzogen. Ende Oktober 1932 kaufte Herr Wolf dann das Grundstück Schottstraße 103, das bis dahin einem Weingärtner aus Cannstatt gehört hatte. Gebaut wurde das Haus 1933, und im folgenden Jahr finden sich im Stuttgarter Adressbuch erstmals die Hausnummer Schottstraße 103 und Sigmund Wolf als Eigentümer.
Nachdem das Ehepaar Wolf von Anfang an in die kleinere Wohnung im Dachgeschoss gezogen ist, die Wohnungen im Erdgeschoss und 1. Stock vermietete und auch eine Hypothek aufnehmen musste, darf gefolgert werden, dass die Vermögensverhältnisse der Eheleute Wolf nicht besonders üppig waren.
Als in den Folgejahren die Drangsalierungen und Zwangsmaßnahmen gegen jüdische Bürger immer massiver wurden, übertrug Sigmund Wolf im August 1938 das Haus per Schenkungsvertrag an seine Ehefrau Hedwig, die evangelisch und „arisch“ war. Dadurch konnte der gerade in diesem Zeitraum wachsende Zugriff des Staates auf das jüdische Eigentum im konkreten Fall abgewehrt werden. Wie überhaupt der Status der damals so genannten Mischehe Sigmund Wolf die folgenden Jahre vor der in Stuttgart Ende 1941 massiv einsetzenden Deportation von Juden bewahrte.
Im Deutschen Reich verbot das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ („Blutschutzgesetz“), das am 15. September 1935 auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg beschlossen worden war, ab diesem Zeitpunkt Eheschließungen zwischen deutschen „Ariern“ und Juden und stellte außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen ihnen als „Rassenschande“ unter Strafe. Die bereits damals geforderte Zwangsscheidung von Mischehen kam jedoch nicht zustande.
Falls freilich eine Mischehe durch Scheidung oder Ableben des nichtjüdischen Partners aufgelöst wurde, verlor der jüdische Partner jeglichen Schutz, es sei denn, es gab unversorgte Kinder.
Genau dieses Schicksal traf Sigmund Wolf, als seine „arische“ Ehefrau Hedwig am 4. November 1943 hier in Stuttgart starb. Nur wenige Wochen später, am 11. Januar 1944, wurde Herr Wolf deportiert – zunächst nach Theresienstadt, am 16. Mai 1944 dann nach Auschwitz…
Mit Sigmund Wolf wurde im Mai 1944 das letzte Glied der Familie Wolf aus Neumarkt i.d.Opf. ausgelöscht, denn zumindest vier der ursprünglich fünf Geschwister wurden durch die Nationalsozialisten umgebracht:
Das Schicksal der zwei Jahre älteren Schwester Fanny ist völlig ungeklärt. Die zwei Jahre jüngere Frieda kam bereits im November 1941 im Fort IX in Kowno (das frühere Kaunas in Litauen) ums Leben, nachdem die deutsche Wehrmacht Litauen besetzt hatte. Sie zählte offenbar zu einem der fünf Transporte, die ursprünglich für Riga bestimmt waren und mit denen am 25. November 1941 2934 jüdische Bürger aus Berlin, München und Frankfurt am Main nach Kowno gebracht wurden, wo sie durch Angehörige des Einsatzkommandos 3, der deutschen Ordnungspolizei und litauischen Hilfswilligen umgebracht wurden. Diese Exekutionen waren die ersten an deutschen Juden verübten Massenerschießungen überhaupt. Das jüngste der fünf Geschwister, Ida (* 1875), starb im September 1942 in Theresienstadt, dem gleichen Ort, an dem im Januar 1943 der Bruder Heinrich (*1872) umkam. Sigmund Wolf überlebte zunächst Theresienstadt, um dann am 16. Mai 1944 in Auschwitz umzukommen.
Ein aus Theresienstadt zurückgekehrter Stuttgarter Jude berichtete im Juli 1945 der Schwägerin Alma Dillmann (der das Haus Schottstraße 103 noch 1943 testamentarisch übertragen worden war), „dass Wolf, der mit ihm zusammen gewohnt habe, als krank von Theresienstadt fortgebracht worden sei. Zweifellos ist er von seiner Krankheit durch Gas oder sonst wie geheilt worden.“
(Anwaltsschreiben vom 24. Oktober 1945)
Das Einzige, was uns heute noch auf das Ehepaar Wolf hinweist, ist dieses Haus Schottstraße 103, vor dem künftig ein „Stolperstein“ an Sigmund Wolf erinnern soll. Der Stein soll uns alle und die künftigen Generationen mahnen und verpflichten, dass sich solche Schicksale nie mehr wiederholen.
Recherche & Text: Dr. Helmut Rannacher, 06.10.2009, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.
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StolperKunst belebt Erinnerung
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Das jüdische Zwangsaltenheim in Eschenau und seine Bewohner
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