Die Zahnarztfamilie Jacobsohn
Pfisterstr. 19
Familie Jacobsohn wohnte 16 Jahre in der Pfizerstr. 19 im 1. Stock.
Zahnarzt Dr. med. dent. Hans Jacobsohn, * 26.5.1885 in Breslau, wohnte dort zusammen mit seiner Frau Luise (geb. Moskiewicz), * 8.2.1889 in Breslau und mit ihren beiden Kindern Ilse, * 8.10.1915 in Stuttgart und Fritz, * 6.8.1918 in Stuttgart. In der Wohnung lebten auch ihre Köchin, ihr Dienstmädchen und solange die Kinder klein waren, ein Kindermädchen.
Der großbürgerliche Charakter des Zuhauses wird durch die Beschreibung in der Wiedergutmachungsakte erkennbar: es gab u.a. ein Herrenzimmer mit Bibliothek und Konzertflügel und ein Esszimmer mit 18 Stühlen.
Die Familie konnte sich viele Reisen leisten. Jedes Jahr ging es vier bis sechs Wochen nach Italien, zwischendurch immer wieder in die Schweiz, ins Allgäu und an den Bodensee. Die Mutter war oft leidend und brauchte immer wieder Sanatoriumsaufenthalte.
Die Praxis von Dr. Jacobsohn befand sich in der Tübingerstr. 19 a im 1. Stock. Dr. Jacobsohn war seit 1915 selbstständig. Die Praxis hatte zwei Behandlungsräume und verfügte über einen Röntgenapparat und Dunkelkammer, eine für die damalige Zeit außergewöhnliche Ausstattung.
Da Hans Jacobsohn Frontsoldat im 1. Weltkrieg gewesen war und die Praxisräume in der Nähe des königlichen Schlosses lagen, bestand sein Klientel zum größten Teil aus Beamten und Angestellten des königlichen Schlosses.
Die Tochter erinnert sich, „dass er schwer in der Praxis arbeitete, weil er so viel zu tun hatte. Er hatte ständig einen Assistenten.“
Schon ab 1930 führt die antisemitische Stimmung zu einem schleichenden Niedergang der Praxis. Die Praxis und das Einkommen waren 1936 soweit geschrumpft, dass Dr. Jacobsohn die hohen Mieten nicht mehr bezahlen konnte. Er musste deshalb seinen Assistenten entlassen und Praxis und Wohnung zu-sammenlegen. Die Familie zog in die Rotebühlstr. 40 c. Hier bestand die Praxis aus einem einzigen Raum, der Warteraum befand sich in der Diele.
Nach dem allgemeinen Berufsverbot für Juden vom 25.7.1938 war er der einzige jüdische Zahnarzt im Großraum Stuttgart. Die Arbeitserlaubnis verdankte er seinem Status als ehemaliger Frontsoldat im 1. Weltkrieg.
Nach der Reichspogromnacht vom 9.11.1938 kamen viele Juden in das Konzentrationslager Dachau, in sogenannte Schutzhaft. Am 15.11.1938 wurde Dr. Jacobsohn nach Dachau verschleppt, wo er bis zum 28.12.1938 bleiben musste.
Am 31.1.1939 wurde ihm die zahnärztliche Approbation entzogen. Danach durfte er aufgrund einer besonderen Bestallung (Zulassung) nur noch jüdische Bürger behandeln.
Ab 1941 wurde er im Stuttgarter Adressbuch als „Zahnbehandler“ und nicht mehr als Zahnarzt geführt.
Am 27.9.1941 schrieb er an die kassenärztliche Vereinigung: “Ich erlaube mir, meine Bestallung hiermit zurückzugeben, da ich nach Haigerloch verziehe, resp. evakuiert werde. Für die Bestallung seit 1939 spreche ich der Kammer nochmals meinen herzlichsten Dank aus”.
Von einem Antrag bei der Stuttgarter Passstelle stammen diese beiden Passfotos
Im September 1941 wurden Hans und Luise Jacobsohn zusammen mit ihrem Sohn Fritz verhaftet und in das Lager Haigerloch gebracht. Leider ist über das weitere Schicksal von Fritz Jacobsohn nichts bekannt.
Die Tochter Ilse besuchte die höhere Töchterschule (Katharinenstift) und wollte danach an die Technische Hochschule für Zahnheilkunde in Stuttgart. Sie wurde als Jüdin aber abgelehnt. Aus diesem Grund begann sie eine Ausbildung als Zahntechnikerin. Diese konnte sie wegen ihrer Auswanderung nicht abschließen.
Am 8.4.1937 heiratete sie standesamtlich in Stuttgart den Kaufmann Siegfried Bernheim, * 25.3.1909 in Tübingen. Die religiöse Trauung fand am 11. April 1937 in Horb am Neckar, dem Wohnort ihres Ehemannes, statt. Dort lebten sie vier Monate bis zur Auswanderung nach New York.
Am 1.12.1941 wurden Hans, Luise und Fritz Jacobsohn nach Riga-Jungfernhof deportiert. Wahrscheinlich haben die Eheleute noch 2 Monate im KZ gelebt, wo Hans Jacobsohn als zahnärztliche Hilfe gearbeitet hat.
Der Zeuge Alfred Nordlinger berichtete in einer eidesstattlichen Erklärung:
„Im September 1941 kam ein Transport von jüdischen Leuten aus Stuttgart nach Haigerloch, wohin sie von der Gestapo verschickt worden sind. Auch Hans Jacobsohn und Ehefrau Luise. Sie lebten bis zum 27. 11. 1941 dort, an diesem Tag wurden sie mit den jüdischen Einwohnern nach Stuttgart gebracht. Dort wurde ein Transport von verfolgten Juden zusammengestellt und per Bahn nach Jungfernhof bei Riga gebracht. Ich sah Dr. Jacobsohn im KZ wieder. Dieser war als Zahnarzt dort beschäftigt. Er und seine Frau sind bei einem Massenmord Mitte Februar ums Leben gekommen.“
Für das Schicksal von Fritz Jacobsohn gibt es keine Zeugen. Er wurde für tot erklärt.
Lesen Sie hier eine Würdigung im Zahnärzteblatt vom Mai 2009
Quellen:
Stadtarchiv Stuttgart
Staatsarchiv Ludwigsburg
Maria Zelzer "Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden"
Recherchen und Autorinnen:
Karin Andre, Barbara Heuss-Czisch, Jennifer Lauxmann
Spender /Paten der Kleindenkmale:
für Dr. Hans Jacobsohn: Dr. Andreas Rothe, Stuttgart
für Ehefrau Luise und Sohn Fritz: Gewerbe- und Handelsverein Stuttgart, vertreten durch Frau Schäfer, Stuttgart
STOLPERBLICK - StolperKunst in Corona-Zeiten
Künstler*innen bleiben gerade auch in diesen Zeiten präsent und begegnen einem konkreten Stuttgarter Stolperstein oder einem anderen Ort, der in Stuttgart an die Verfolgungen in der NS-Zeit erinnert
http://www.stolperkunst.de/stolperblick-stolperkunst-in-coronazeiten/
Silke Arning auf SWR2 über das Los der Zwangsarbeiter im Lager auf der Schlotwiese
StolperKunst belebt Erinnerung
...ein Projekt der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen gegen Geschichtsvergessenheit!
Warum Stolpersteine?
Für Hannelore Levi und ihre Eltern Berta und Ernst, letztere 1942 in Riga ermordet, wurden im Herbst 2017 Stolpersteine in Stuttgart verlegt. Pip McCosh (*1965, Neuseeland), Tochter von Hannelore Levi (*1928, Stuttgart, gest. 2012, Neuseeland) schrieb am 22. Januar 2018 eine e-mail, die anschaulich zeigt, dass Stolpersteine ihre Schleifen bis ins Hier und Jetzt ziehen...
Übersichtskarte der Stolpersteine
in der Reihe TÜBINGER JUDAISTISCHE STUDIEN erschienen:
Briefe zur JÜDISCHEN EHEVERMITTLUNG 1911-1921
Publikationen aus dem Stuttgarter Norden
Broschüre über „Else Kahn, geb. Jeselsohn. Nachgetragene Würde – nachgetragene Liebe. Eine Lebensgeschichte“
Broschüre „Der Killesberg unterm Hakenkreuz"
Der Stuttgarter "Judenladen": Ein fast vergessenes Stück Stuttgarter Stadtgeschichte
Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern
Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier
Das jüdische Zwangsaltenheim in Eschenau und seine Bewohner
Herausgegeben von Martin Ulmer und Martin Ritter
Aus dem KZ Theresienstadt: "Was mich aufrecht erhielt, war die Post ..."
Postkarten aus Theresienstadt von Gertrud Nast-Kolb an ihre Tochter Ilse in Stuttgart (1944-1945)
heraus-gegeben von Margot Weiß
Verlegt
Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart
heraugegeben von Elke Martin
Ernst Köhler
im August 1940 in Grafeneck ermordet - weil er krank war
weiter
Walter, Hanna, Sofie, Rose, Erich, Auguste, Albert und Werner Levi
die ganze Familie wurde von den Nazis auf erschreckend gründliche Weise vernichtet weiter
Max und Mathilde Henle
Letzter frei gewählter Wohnort:
Hohentwielstrasse 146 B, Stuttgart Süd
Lydia Heilborn und ihre Tochter Gertrud
die Tochter in Grafeneck ermordet, die Mutter in Theresienstadt weiter
Hermine Wertheimer
zwangsevakuiert, deportiert und enteignet weiter