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Anna und Wilhelm Lichter, Lenzhalde 61

Lichter WilhelmWilhelm Lichter wurde am 12.10.1865 in Bruchsal geboren. Sein Vater, Leopold Lichter, war Fabrikant und Miteigentümer der „Badisch-Württembergischen Weinbrennerei Hirsch & Lichter oHG“, welche im Jahre 1863 gegründet wurde und deren Betrieb in der Durlacher Straße 51/53 in Bruchsal und in der Bopserstraße 2 in Stuttgart angesiedelt war.

Lichter AnnaWilhelm Lichter heiratete am 09.05.1892 die am 01.11.1870 in Bingen geborene Anna Gross.
Wilhelm und Anna ziehen 1892 nach Stuttgart. Sie werden Eltern von zwei Kindern Paul und Marie. Sohn Paul Lichter, *17.03.1893, heiratet am 17.02.1919 Marie Hirsch, die Tochter des verstorbenen Geschäftspartners seines Vaters. Im Laufe der nächsten Jahre bekommt Marie Lichter zwei Töchter, Renate Lichter, *30.05.1921 und Lore Lichter, *22.05.1926.
Lore Lichter heiratet später Frank Metzger.
Die Tochter Irma Lichter, *21.05.1898, heiratet am 2.11.1919 den Prokuristen Max Wronker aus Frankfurt a. M.
Paul Lichter starb am 01.10.1976 in New York, Irma Wronker im      Mai 1983 und Marie Lichter am 29.08.1984 ebenda.

Wilhelm und Anna Lichter ermordet in Theresienstadt.
Am 07.09.1916 kauft Wilhelm Lichter in der Lenzhalde 61 ein stattliches Wohnhaus mit Terrasse, Hofraum und Autohalle, wie man damals eine Garage nannte, welches auf einem 12a 93qm großen Grundstück steht und zwei Vorgärten samt Mauer und einen Lustgarten mit Laubengängen und zwei Gartenhäusern aufweist.
Die Passbilder von Wilhelm und Anna Lichter stammen aus dem Jahr 1927; zum damaligen
Zeitpunkt Wilhelm 62 Jahre und seine Frau Anna 57 Jahre alt. Da war ihr Sohn Paul bereits einer der
Gesellschafter der Weinbrennerei Hirsch & Lichter.

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus Anfang der 30 Jahre endete eine sorglose Zeit. Begleitet
von Hasspropaganda und Diffamierung, erlassen die Nationalsozialisten eine endlose Reihe von Gesetzen, um jüdische Mitbürger gesellschaftlich und wirtschaftlich zu diskriminieren und auszuplündern. Hiervon war auch die Familie Lichter betroffen.
Die Akten des Staatsarchivs Ludwigsburg belegen sehr deutlich den Leidensweg und die finanzielle Auspressung ab 1937. In diesem Jahr wird Wilhelm Lichter 72 Jahre alt.
Unter dem Druck der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse versucht Wilhelm Lichter ab 1937, das Haus in der Lenzhalde zu verkaufen. – Am 1.04.1938 verkauft er schließlich das gesamte Anwesen zum Kaufpreis von 125.000 Reichsmark (RM). Nach dem Krieg stellen die Schlichter für Wiedergutmachung fest, dass dieses Entgelt kein angemessener Kaufpreis war und auch nicht dem Verkäufer zur Verfügung stand, sondern als Sicherheit für die Reichsfluchtsteuer bei einer möglichen Auswanderung gesperrt war.
Der Kaufvertrag räumt Wilhelm und Anna Lichter ein auf genau ein Jahr befristetes Wohnrecht
im 2.OG des Hauses zum Mietpreis von 130 RM pro Monat ein. Der Wechsel in das 2.OG bedingt,
dass ein Teil der Hauseinrichtung verkauft wird.
Ab Anfang 1939 wohnt das Ehepaar Lichter im Gähkopf 21B zur Miete und ab einem unbekannten
Zeitpunkt bis Februar 1942 zwangsweise zusammen mit anderen jüdischen Familien
in der Wernlinstraße 1. Diese mehrfachen Umzüge in jeweils kleinere Wohnungen zwingen das Ehepaar Lichter dazu, jeweils einen Teil der Möbel zu verkaufen.
Nach der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung folgt der schrittweise Entzug des Wohnraums
und des Vermögens: Bereits im Frühjahr 1938 mussten Juden ihr Vermögen anmelden, so fern es über 5.000 RM betrug. Über Sicherungsanordnungen konnte das Vermögen durch Finanzamt, Devisenstelle oder Zollbehörden gesperrt werden oder zu Sperrkonten erklärt werden, falls ein Ausreiseverdacht bestand. Den Betroffenen blieb dann ein vom Finanzamt festgesetzter monatlicher Freibetrag von 150 bis 300 RM zum Leben. Nach der Ermordung des Legationssekretärs Ernst von Rath und den folgenden Pogromen werden am 12.11.1938 Verordnungen über Sühnleistungen der Juden erlassen, mit denen 20% und später 25% des Vermögens an das Reich abzuführen waren.
Wilhelm Lichter wird durch das Finanzamt verpflichtet, große Teile seines Aktienbesitzes in fünf Raten als Judenvermögensabgabe abzuführen. Am 15.12.1938, am 15.01., 19.05., 15.08. und am 18.11. überweist er insgesamt 21.000 RM an die Preußische Seehandlung.
Hinzu kam, dass nach einer Anordnung vom 21.02.1939 die Stuttgarter Juden alle Wertsachen aus Gold, Silber und Platin sowie Edelsteine an die städtische Pfandleihe abliefern mussten.
Wilhelm Lichter verkauft dort am 03.05.39 Wertgegenstände für 961 RM. Vater Wilhelm Lichter möchte seinem in die USA ausgewanderten Sohn Paul helfen. Er überweist am 07.06.1941 einen Betrag von15.000 RM über die Deutsche Golddiskontbank an seinen Sohn. Von dieser Summe schöpft die Deutsche Golddiskontbank den größten Teil ab.
Paul Lichter erhält schließlich gerade einmal 240 US-Dollar.
Am 28.02.1942 werden Anna und Wilhelm Lichter nach Dellmensingen bei Ulm in ein „jüdisches Altenheim“ zwangsevakuiert. Dabei müssen sie ihren verbleibenden Hausrat in der Wernlinstraße 1 zurücklassen. Anfang August schließen die Lichters mit dem verbleibenden Teil ihres Vermögens einen „Heimeinkaufsvertrag“ ab, welcher ihnen eine bis zum Ende ihres Lebens währende kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversicherung in Theresienstadt garantieren soll. Im Auftrag eines Generalbevollmächtigten werden am 27.08.1942 deshalb – bezogen auf einen Heimeinkaufsvertrag über 22.815 RM -15.000 RM zu Gunsten des Sonderkontos „H“ der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland überwiesen.
Zu diesem Zeitpunkt sind die Lichters aber nicht mehr in Dellmensingen, denn sie mussten
sich bereits am 22.08.1942 mit 939 anderen älteren Menschen jüdischen Glaubens im
Sammellager auf dem Killesberg einfinden. Am folgenden Tag wurden sie in einem Güterzug vom inneren Teil des Stuttgarter Nordbahnhofs nach Theresienstadt deportiert.
In Theresienstadt stirbt Anna Lichter am 18.9.1942, Wilhelm Lichter – fünf Monate später.- am 6.02.1943. Ihr restliches Vermögen „fiel“ bereits vor Wilhelms Tod, am 14.12.1942 an das Deutsche Reich.

Stolperstein Lichter Wilhelm u. Anna

Emigration von Paul Lichter, Sohn von Wilhelm & Anna Lichter, und dessen Frau Marie Lichter.
Unter dem anhaltenden Druck verkaufen die Gesellschafter – Adolf Emrich, Julius Schlesinger,
Paul Lichter und Klara Brettheimer – am 16.08.1938 die Weinbrennerei Lichter &Hirsch oHG in Bruchsal. Im Hinblick auf die Reichsfluchtsteuer trägt das Finanzamt eine Sicherheitsleistung von 18.706 RM auf das Grundstück Bopserstraße 2 ein. Der Betriebsteil dort in Stuttgart wird am 15.11.1938 verkauft. Der Verkaufserlös geht auf gesperrte Konten.
Paul Lichter wird in der Pogromnacht vom 9/10. November 1938 verhaftet und bleibt bis zum 6.12.1938 im KZ Dachau inhaftiert.
Am 24.02., 01.03. und 13.03.1939 verkaufen Marie und Paul Lichter in der städtischen Pfandleihe Schmuck, Silberbesteck, Kaffeeservice, Zuckerdosen und Leuchter. Um eine Ausreiseerlaubnis für seine Familie zu erhalten, zahlt Paul Lichter eine Judenvermögensabgabe von 67.000 RM. Am 15.04.1939 erhält er die Genehmigung zum Versand von Umzugsgut gegen eine ersatzlose Abgabe von 5.000 RM an die deutsche Golddiskontbank.
Das versandte Umzugsgut wird im Bremer Hafen nicht weitergeleitet. Paul und Marie Lichter
gelingt es, im Frühjahr 1939 aus Deutschland zunächst nach England zu emigrieren.

Emigration von Renate & Lore Lichter, Enkelinnen von Wilhelm & Anna Lichter.
Renate Lichter besuchte die Rothert´sche Höhere Mädchenschule Stuttgart bis zum Mai 1938. Später besucht sie die Kochschule Schaible in Stuttgart, aus der sie am 9.11.1938 „aus rassischen Gründen“ ausgeschlossen wird. Ihr gelingt die Ausreise nach Amerika. Am 08.06.1939 kommt sie in New York alleine an. Sie verdient ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Schokolade und Gebäck.
Lore Lichter muss ebenfalls „aus rassischen Gründen“ die Rothert´sche Höhere Mädchenschule
verlassen. Ihr gelingt es am 30.05.1939, nach England zu emigrieren und dort weiter zur Schule zu gehen.
Am 01.03.1940 reisen Paul, Marie und Lore Lichter mit dem Cunard-Dampfschiff „Samaria“ von Liverpool nach New York.

Recherche und Text: 2011/ Dr. Andreas Jacobi, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg