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Bella, Sigmund und Irene Ullmann, Tübinger Str. 45

Die Familie Ullmann war beheimatet in Haigerloch, wo es seit dem Mittelalter Juden gab und wo bis heute die Geschlossenheit des früheren jüdischen Haag-Viertels erhalten ist. Die Synagoge, 2003 als Begegnungs- und Ausstellungszentrum „Ehemalige Synagoge“ eröffnet, und der große Friedhof zeugen ebenfalls vom friedlichen Zusammenleben von Christen und Juden bis 1933.
Sigmund Ullmann wurde am 6. August 1897 in Haigerloch geboren. Er wuchs dort mit seinem 1899 geborenen taubstummen Bruder Emil auf; ein Bruder Heinrich – *1898 – die Zwillingsschwestern Emma und Rosa – *1900 – waren kurz nach der Geburt gestorben. Bella Ullmann, geb. Ullmann, am 26. Dezember 1895 in Haigerloch geboren, war eine Cousine ersten Grades von Sigmund, ihre Väter waren Brüder.
Sie heirateten am 20. August 1922. Da es in Haigerloch bereits viele Viehhändler gab, zog das Ehepaar auf den Rat des Vaters hin nach Sindelfingen.
Hier kauften die Ullmanns 1923 das Wohn- und Stallgebäude Obere Vorstadt 1 einer Viehhandlung, die schon seit 1912 existierte. Sigmund betrieb dieses Geschäft zusammen mit seinem Vetter und Schwager Siegfried Ullmann, dem ältesten Bruder seiner Frau Bella, gewerbepolizeilich angemeldet als „Gebrüder Ullmann, Viehhandlung“ am 1.9.1925. – Zu den Inhabern zählten auch noch aus der Ullmann-Familie: Elias, Salomon (der Vater von Sigmund) und Louis (ein Bruder von Bella) in Haigerloch. Die Firma existierte bis zum 30.8.1938.
Drei Kinder wurden Sigmund und Bella geboren: Irene, am 20. März 1923 in Stuttgart; Helmut, am 7.06.1926 in Sindelfingen; Edith, am 31.12.1928 in Sindelfingen. Helmut und Edith werden in England und in den USA überleben, Irene wird mit den Eltern in den Tod gehen müssen.
Neun Deutsche jüdischen Glaubens lebten im Juni 1933 in Sindelfingen, wie es im Fragebogen zur Volkszählung vermerkt ist: neben der Frau eines „arischen“ Friseurs war es die insgesamt achtköpfige Familie Ullmann.
Das waren Sigmund und Bella und ihre drei Kinder, Siegfried und seine Frau Lilly; dazu kam Sigmunds taubstummer Bruder Emil, der eine Herrenschneiderei betrieb.

Ullmann Bella mit TöchternBella Ullmann mit ihren Töchtern Irene (links) und Edith (Foto aus dem Privatbesitz Ullmann)

Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 hatten die Ullmanns friedlich als geachtete Bürger in Sindelfingen gelebt, ein gut gehendes Viehhandelsgeschäft betrieben und es zu Wohlstand gebracht.
Das änderte sich nun.
Ab 1937 wurde die Familie unter Mithilfe des damaligen Bürgermeisters Karl Pfitzer wirtschaftlich in den Ruin getrieben, wie der frühere Sindelfinger Stadtarchivar und heutige Kulturamtsleiter Horst Zecha schreibt:
„Im Dezember 1937 forderte die Kreisbauernschaft den Sindelfinger Bürgermeister unter dem Betreff ‘Bereinigung des Viehverteilerstandes’ auf, ihr Fälle zu nennen, ‘in denen Ullmann eine unsaubere Handlungsweise nachgewiesen werden kann’, um der Firma die Handelserlaubnis entziehen zu können. Mit solchen Informationen konnte Bürgermeister Pfitzer zwar nicht dienen, sah sich aber durch den Brief offensichtlich veranlasst, selbst aktiv zu werden: Noch im Dezember 1937 wurde der
örtliche Viehversicherungsverein aufgefordert, keine Tiere der Firma Ullmann mehr zu versichern. Im April 1938 vermerkt das Gemeinderatsprotokoll: ‘Der Bürgermeister beabsichtigt ein Verbot zu erlassen, wonach Juden der Zutritt zu den hiesigen Viehmärkten verboten ist. Die Ratsherren erheben keine Einwendungen.“ Schließlich wurde den Ullmanns die Erneuerung ihrer Wandergewerbescheine versagt.
Zum 30. August 1938 gaben die Ullmanns ihr Geschäft auf. Auch Emil Ullmann musste aufgrund der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben seine Schneiderei schließen.
Die Familie Sigmund Ullmann war 1935 nach Stuttgart gezogen, vielleicht
wegen der Kinder, die in Sindelfingen keine öffentliche Schule mehr besuchen durften und nun in die jüdische Schule in Stuttgart gingen. Sie wohnten in der Tübinger Straße 45, im 3. Stock, in einem Haus, das der Buch- und Kunsthandlung Kepplerhaus gehörte und die dort ihr Ladengeschäft betrieb.
Im September 1938 beantragte Sigmund beim Bürgermeisteramt Haigerloch
die Gestattung seiner Rückkehr; er besitze hier ein eigenes Haus, seine Mutter sei dringend auf Pflege angewiesen und seine Vermögensverhältnisse seien „durchaus geordnet“. Die Stadt Haigerloch lehnte den Antrag als „nicht stichhaltig“ und „grundsätzlich“ ab.
1939 schickt Sigmund die beiden jüngeren Kinder ins Ausland, die vorübergehende
Haft nach dem Pogrom des 9. November 1938 hatte ihm alle Illusionen genommen. Helmut muss mit 12 Jahren in einem Kindertransport die Reise nach England antreten.
„Am 18.4.1939 verließ ich Deutschland. In Stuttgart am Gleis 16 habe ich meine Familie zum letzten Mal gesehen“, erzählt er im Jahr 2004 den Schülern vom Sindelfinger Goldberg-Gymnasium. Die zehn-jährige Edith wird zu Verwandten in die USA gebracht. Die 16 Jahre alte Irene bleibt bei den Eltern. In die leer gewordenen Kinderzimmer der Wohnung nehmen Ullmanns andere Juden auf, sicher auch aus finanziellen Gründen Sigmunds Berufsbezeichnung ist nun Arbeiter.

1941 müssen sie die Wohnung in der Tübinger Straße verlassen und in die zum „Judenhaus“ gewordene Arminstraße 15 umziehen, wo sie mit anderen Juden auf engstem Raum zusammen leben müssen, gesammelt für die Deportation „nach dem Osten“!
Am 26. April 1942 werden sie nach Izbica südöstlich von Lublin deportiert: Sigmund und Bella, im Alter von 44 und 46 Jahren, und die 19-jährige Tochter Irene.
Mit dabei ist auch Sigmunds taubstummer Bruder Emil. Es ist zu vermuten, dass er auch von Sindelfingen nach Stuttgart gekommen war und eventuell bei seinem Bruder Sigmund lebte.
Ab 1941 wohnte er nachweislich im jüdischen Altersheim Heidehofstraße 9; im selben Jahr, in dem die Familie Sigmund Ullmann in die Arminstraße 15 ziehen musste.
Im Sammellager auf dem Killesberg vor dem Abtransport trifft sich die Familie wieder.
Die ursprünglich von jüdischen Siedlern gegründete Ortschaft Izbica wurde von den Nazis zum Ghetto erklärt für die Konzentrierung der ansässigen polnisch-jüdischen Bevölkerung, bis es dann auch für die aus dem Reich Deportierten zur Durchgangsstation in die Vernichtungslager wurde.
Die Lebensverhältnisse in dem völlig verwahrlosten Ort waren katastrophal. Maria Zelzer schreibt in ihrem Buch „Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden“ (1964): „Der Transport mit dem Ziel Izbica nahm mit den arbeitsfähigen Erwachsenen auch die letzten jüdischen Kinder Stuttgarts mit. Keiner von den 278 Deportierten kam zurück. Einige Monate noch brachte die Post kurze Nachrichten, Lebenszeichen gequälter Menschen. Wer nicht schon durch schwerste Fronarbeit und an Hunger in den ersten Monaten umkam, wurde den Vernichtungslagern Belzec oder Majdanek übergeben.“
Auch Erschießungen gab es in Izbica.
Die Spur der Familie Ullmann verliert sich hier in Izbica.           

Ullmann Bella DokumentDem Sohn Helmut 1939 mit nach England gegeben: ein kleines Gebetbuch

Die Töchter leben heute beide in der Grafschaft Kent in Südengland.
Irene in Dover und Jennifer, genannt Jenny, in Tonbridge. Sie waren zur Verlegung der Stolpersteine für ihre Großeltern und ihre Tante Irene vor dem Haus Tübinger Straße 45 nach Stuttgart gekommen.

Die lokalen Ereignisse um das Denkmal in Sindelfingen.

Die der Denkmalaufstellung vorangegangenen Auseinandersetzungen im Gemeinderat Sindelfigen und in der Presse gehören der Vergangenheit an.
Der Sindelfinger Gemeinderat stellte sich letztendlich seiner Verantwortung, indem er Bürgermeister Pfitzer wegen seiner Rolle bei der wirtschaftlichen Vernichtung der Familie Ullmann die Ehrenbürgerwürde aberkannte. Die ehemalige „Karl-Pfitzer-Straße“ heißt heute „Unter den Weinbergen“.
Helmut Ullmann, der als Kind nach England fliehen musste, kam nach 1945 von seinem Wohnort Dover oft nach Sindelfingen. Er erzählte den Schülern von der Vergangenheit und seinem schwierigen Einleben im fremden Land. Seine Schwester Edith war schon 1957 in New York gestorben. Helmut Ullmann starb am 25.9.2007 in England.
Seine beiden Töchter übergaben das bis dahin von ihnen sorgsam gehütete Vermächtnis der Getöteten an den Gesprächskreis Ehemalige Synagoge Haigerloch: ein Paar Stiefel von Vater Sigmund, die er dem Sohn 1939 auf die Reise nach England mitgegeben hatte, dazu ein kleines Gebetbuch.
Beides ist in der ständigen Ausstellung in der Synagoge zu sehen. Erhalten
sind auch etwa 20 Briefe des Vaters, die er seinem Jungen Helmut nach England schickte.

Recherche und Text: 2011 / Irma Glaub, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Süd , unter Verwendung der Recherchen von Helmut Gabeli, Haigerloch; Horst Zecha und Michael Kuckenburg, Sindelfingen und Franz Schönleber, Stuttgart.