Menü Schließen

Julius und Martha Baer, Eberhardstr. 1

Marta und Edith BaerEdith Baer stammt aus einer Stuttgarter Kaufmannsfamilie und überlebte den Holocaust als Kind im Exil. Über das Schicksal ihrer Eltern schrieb sie den folgendenText:
 
Ich verbrachte meine Kindheit in Stuttgart, das auch die Geburtsstadt meines Vaters war. Meine Familie war seit Generationen in Süddeutschland wohnhaft, von Mutters Seite immer in Württemberg, wo ihr Urgroßonkel, der kgl. Kammersänger Heinrich Sontheim, viele Jahre im Stuttgarter Opernhaus Glanzrollen sang. Der “Schwäbische Caruso”, der auch oft mit großem Erfolg in Wien gastierte, war nicht vom Antisemitismus verschont geblieben. Seine Schwester Vögele, verehelicht 1828 mit dem Urgroßvater meiner Mutter, Simon Rohrbacher, brachte die Liebe zur Musik als Mitgift in unsere Familie. Musik und die Lesefreude, die mein Vater durch seine reichhaltige Bibliothek und sein literarisches Wissen in mir weckte, waren ein Teil der schwäbisch-jüdischen Gedankenwelt und Lebensführung, die mit humanen und liberalen Werten meine Kindheit prägten.

Meine Mutter war eine Frau ihrer Zeit, auf Familie und Haushalt eingestellt. Oft ging ich mit ihr in die Markthalle, wo sie Gemüse für ihre leckeren Gerichte und frisches Obst zum Kuchenbacken einkaufte. Oft wanderten wir auf der Waldau und sangen Lieder oder auch Arien wie die aus der Zauberflöte, die sie so liebte. Sonst gab es nach der Schule Klavierstunden und den Religionsunterricht im Gemeindehaus. Wir waren nicht “fromm”, doch bewusst und bejahend jüdisch, ein Glied in der Kette, die unermesslich weit in die Vergangenheit zurückführte. In der Synagoge stimmte ich in Chor und Gemeinde ein, in Harmonie mit meiner Mutter, die groß und schön im Sabbat-Kostüm neben mir auf der Empore stand. Bei Mutters Eltern in Göppingen wurden die Feiertage traditionell begangen. Am Seder-Abend las Großvater aus der Haggadah die Geschichte vom Exodus aus Ägypten vor. Dann sangen meine junge Tante Liese und ich mit den Erwachsenen am Tisch die alten Pessachweisen: das Lied vorn Lämmchen und Gottes Sieg über den Todesengel; das Lied von den Zahlen mit dem versichernden Refrain “Eins ist Gott der Herr allein, die ganze Schöpfung sein. ” Diese Einheit und Einzigkeit Gottes erfüllte mich von Kindheit an. Ich fühlte keinen Widerspruch zwischen meiner jüdischen Welt und der schwäbischen Heimat. In beiden fühlte ich mich daheim und geborgen.

Es war eine illusorische Geborgenheit. Mit Hitlers Machtergreifung 1933 zerbrach die Demokratie. Gegner der Nazis und Verteidiger der Republik wurden misshandelt und in die ersten KZs eingeliefert – auch aus Stuttgart. Es war, wie mein Vater lang schon befürchtete, das Ende der toleranten Geisteshaltung in seiner Heimat. Am Tag des Boykotts der jüdischen Firmen sah er vorn Fenster kopfschüttelnd auf die Straße, wo die SA-Posten breitbeinig den Eingang verwehrten und die geachtete Firma seines Vaters diffamierte. Und doch kamen Kunden wieder zurück, bis das Familiengeschäft 1938 unter dem Zwang der Gestapo “arisiert” wurde.
Dagegen schauten manche von Großvaters langjährigen Mietern und Nachbarn weg, wenn sie uns begegneten. In der Schule, wo ich immer gut mit meinen Mitschülerinnen stand, wurde ich allmählich ausgeschlossen. Hitlers fanatische Reden wurden im Rundfunk und die Lehrerversammelten die Klasse zum Zuhören in der Turnhalle; auch außerhalb der Schule waren die damals Neunjährigen dem Einfluß des Regimes und dem Druck zur Anpassung ausgesetzt. Und so zogen sich die Mitschülerinnen von mir zurück. Bis auf eine, die Schüchternste in der Klasse, die den Mut fand, weiter meine Freundin zu sein. Schließlich wurde ich allein auf die letzte Bank verbannt. Es tat weh, aber ich wusste, dass ich dieselbe war wie immer; nur die WeIt hatte sich verändert, meine Kindheit war vorüber.

Die “Nürnberger Gesetze” hatten uns inzwischen die Staatsbürgerschaft und bürgerlichen Rechte entrissen. Großvater, der nie daran dachte, auszuwandern, und überzeugt war, er würde das Regime überleben, starb plötzlich, als kehre er Hitlers Welt den Rücken. Mehr und mehr Familien versuchten zu entkommen, wo immer sich eine Tür in ein anderes Land öffnete! Aber zu viele Türen blieben verschlossen. Für uns war das chronische Leiden meines Vaters – Folgen einer Lazarett-Operation im Ersten Weltkrieg – eine persönliche Tragödie inmitten der allgemeinen, denn sein Gesundheitszustand machte das Erlangen eines Visums für seine Einwanderung in die USA äußerst fraglich. Eine weitere schwere Operation im Karl-Olga-Krankenhaus, von der er sich Heilung und das ersehnte US-Visum für sich und seine Familie versprach, war erfolglos. Nach dem Novemberpogrom 1938 – als die Synagogen niederbrannten, Schaufenster in Scherben geschlagen und Tausende von jüdischen Männern in die Lager getrieben wurden – flüchtete auch mein Onkel mit den Seinen in Panik aus Haus und Land. Vater und sein älterer Bruder waren von Jugend auf unzertrennlich gewesen; sie waren Partner in der väterlichen Firma, wohnten im selben Hlaus, wo meine Kusinen wie Schwestern für mich waren. Nun hatte Hitler das Band zerrissen. Es war ein schrecklicher Schlag für meinen Vater. Von jetzt ab versuchten meine Eltern alles irgend Mögliche, um mich zu retten, denn meine Mutter hätte ihren kranken Mann nie verlassen und war bereit, sein Schicksal zu teilen.

Mit dem Ausschluss der letzten jüdischen Schüler aus den Schulen und der immer gefährlicheren Lage der jüdischen Menschen nach dem Kriegsausbruch entschlossen sich meine Eltern, ihr einziges Kind allein nach Amerika zu schicken und in Sicherheit zu bringen. Dort, hofften sie, könnte ich bei weitläufigen Verwandten und Organisationen meine dringende Situation schildern und ihre Einwanderung erleichtern. Es schien ein großes Unterfangen für ein junges Mädchen zu sein, aber ich las in ihren Augen, wie sehr sie es für mich wünschten, und musste auch für sie tapfer sein.
Selbst mit dem amerikanischen Visum vorn Konsulat in der Tasche war meine Emigration im Frühjahr 1940 nicht sicher. Der Schiffsverkehr Über den Nordatlantik war wegen des Seekriegs eingestellt; mit Mussolinis Eintritt in den Krieg war auch der Fluchtweg über Genua abgeschnitten. Nur ein letzter Ausweg bestand: ein Transport, vom Jüdischen Hilfsverein in Berlin zusammengestellt, für Flüchtlinge, die über Russland, die Mandschurei, Korea und Japan an die Westküste der USA entkommen konnten. Sowjet-Truppen hatten die baltischen Grenzen geschlossen; man musste nach Moskau fliegen, und dort den Anschluss an die Transsibirische Eisenbahn bekommen. Ende Juli wurde ich in Berlin mit einem Häuflein Flüchtlinge in einen Omnibus Richtung Tempelhof geladen und sah stumm und erstarrt zum Fenster hinaus, wo meine Mutter schluchzend auf der Straße zurückblieb.

Ich sah meine Eltern nie wieder. Meine angstvollen Bemühungen in Amerika, sie zu retten, waren vergebens. Es gab so viele, die bei den verschiedenen Organisationen Hilfe für ihre Angehörigen erflehten. So viele anonyme Verwandte, die Hilfe zur Einwanderung benötigten. Schon vor Amerikas Eintritt in den Krieg schlossen die USA die Konsulate in Deutschland. Anfang Oktober 1941 erließ das Nazi-Regime ein Auswanderungsverbot für Juden. Nach Hitlers Kriegserklärung gegen die USA war auch der Postverkehr mit Deutschland abgeschnitten.

Drüben mussten meine Eltern die Stationen ihres Leidenswegs in den Abgrund der Verfolgung gehen. Was ihr Opferwille mir erspart hatte, mussten sie nun mit ihren Schicksalsgefährten erdulden: Zusammenpferchung in “Judenhäusern”, die Verfemung durch das Tragen des “Gelben Sterns”, Entziehung von Nahrungsmitteln, Entbehrungen und Schikanen aller Art und eine Reihe von zynisch ausgeklügelten “Sperrkonten”, “Judensteuern”, und “Sühneleistungen”, die die ihren Peinigern Ausgelieferten in völliger Verarmung enden ließen.
Einige Monate lang waren meine Eltern noch in Haigerloch, einer der kleinen Ortschaften, wohin Stuttgarter Juden “evakuiert” wurden, um die Stadt “judenfrei” zu machen. Es war nur der erste Schritt in die Deportation für sie alle. Im August 1942 wurden die zum zweiten Mal Entwurzelten mit einem Transport von insgesamt 1200 Württemberger Juden nach Theresienstadt nahe Prag deportiert, über den “Sammelpunkt” Killesberg in Stuttgart. Dort mussten die verzweifelten Menschen – die meisten, wie mein Vater, ihr Leben lang Einwohner und gute Nachbarn in einer geliebten Stadt – die letzte Nacht auf dem Boden einer Halle kauernd verbringen. Verlassen, betrogen und für ihre “Umsiedlung” ihrer letzten armseligen Habe beraubt.

Auf dem Killesberg, bei meiner ersten Rückkehr nach Stuttgart 1983, sah ich den Gedenkstein der Stadt für “die mehr als 2000 jüdischen Mitbürger, die während der Zeit des Unheils in den Jahren 1941 und 1942 von hier aus ihren Leidensweg in die Konzentrationslager und den Tod antraten”. Mir zur Seite stand Schwester Rose D., die schüchterne Schulfreundin, die zu mir hielt bis zuletzt. Auch an den Kriegskamerad meines Vaters dachte ich, der als Sozialdemokrat im KZ war und doch nach seiner Entlassung den jüdischen Freund weiter besuchte. Auch ich machte einen Besuch bei einer Frau auf der Schwäbischen Alb, die meine Eltern kennen lernte, als sie für ihren Sohn mein Klavier erstand, da meine Eltern sich dringend genötigt sahen, es zu verkaufen. Von ihrem Elend berührt, brachte sie ihnen heimlich Eier und Butter, beides für Juden nun streng untersagt. Bis meine Mutter sie unter Tränen bat, sich nicht mehr zu bemühen, es wäre zu gefährlich für sie alle.

Ja, es gehörte großer Mut dazu, im Dritten Reich menschlich zu handeln; die es taten, waren Einzelne, derer wir gedenken sollen. Nicht nur um sie zu ehren, sondern um davor zu warnen, eine Diktatur zur Macht kommen zu lassen – und die Demokratie zu bewahren, als hänge das Leben davon ab. Für viele war es einmal so weit.

Nach der langen Fahrt im heißen, überfüllten Wagen erlag mein Vater den Qualen der Deportation und des Lagers wenige Wochen nach seiner Ankunft in Theresienstadt. Meine Mutter, die so lange mit ihm zusammen gelitten hatte, überlebte zwei weitere Jahre, aber im Oktober 1944 wurde sie nach Auschwitz deportiert; die Befreiung des Lagers durch russische Soldaten im Januar kam zu spät für sie. Von einer Frau, die von Theresienstadt zurückkam, hörte ich später, dass meine Mutter dort “die alten Mütterchen betreute, die sich immer rührend auf sie freuten. Nun musste die Gute ihr Leben lassen”. Eine andere Überlebende sandte mir die Bettdecke, die ihr meine Mutter überließ, als sie vor der Deportation nach Auschwitz stand. Als ich in Stuttgart am Bett meines Vaters von ihm Abschied nahm, hielt er meine Hände in seinen und sagte: “Vergess deine Eltern net”, und wir weinten beide.

Menschen wie meine Eltern sind unvergessen. In meiner Erinnerung begleiteten sie mich durch die Jahrzehnte und begleiteten durch mich auch das Leben unserer Tochter und unseres Sohnes, die ihre Großeltern nie gekannt haben – und deren Kinder, die die Namen meiner Eltern tragen. Wenn ich ihre schuldlose Lebensführung ihrem unerfassbar tragischen Lebensende gegenüberstelle, schreit es in mir zum Himmel auf: WARUM??? Aber selbst der Himmel verstummt.

Nur die Menschen können einmal die Antwort finden, wenn sie lernen, im Nächsten nicht den “Artfremden” und “Minderwertigen” zu sehen, sondern den Mit-Menschen, den sie kennen, achten und behüten müssen, auf diesem vielfach gefährdeten Stückchen Erde, das wir alle nur kurz zusammen bewohnen.
Edith Baer

Stolpersteine BaerSeit 23. September 2005 erinnern diese Stolpersteine in der Eberhardstraße 1 an das Schicksal von Martha und Julius Baer.