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Ernst Köhler, Schwanenstr. 1

Wer ist dieser Onkel Ernst? Ich habe ihn nie kennen gelernt, er war schon 5 Jahre tot als ich 1945 nach Kriegsende geboren wurde. Das Einzige was ich von Onkel Ernst besitze, sind ein paar Fotos, Tagebuchnotizen, seine Taufurkunde der “Deutschen Evangelischen Kirche zu Buenos Aires”, viele Dokumente, darunter eine kleine “Belobungskarte” der Elementarschule und ein kleines Öl-Bild, das er gemalt hat. Es zeigt einen Blumenstrauß in einer dunklen, fast schwarzen, bauchigen Vase. Der Hintergrund ist schwarzgrün. Die Blumen – es ist ein Sommerblumenstrauß – sind alle in sehr gedämpften, eher dunklen Farben gehalten.
Meine Großeltern Friedrich und Marie Köhler wanderten um 1894 nach Buenos Aires aus. Dort wurde Ernst als drittes von vier Kindern am 5. Januar 1899 geboren.
Doch bereits 1901/02 kam die Familie Köhler wieder zurück nach Stuttgart.
Ernst ging bis 1915 in die Schickhardt-Realschule. Anschließend ein Jahr in die Höhere Handelsschule, wo er 1916 erfolgreich seinen Schulabschluss machte.
Im Ersten Weltkrieg war er 1917 beim Militär. Während dieser Zeit erkrankte er an der “Kopfgrippe” (Hirnhautentzündung).
Danach arbeitete Ernst als Bankbeamter bei der Spar- u. Giro-Kasse Stuttgart und bei der Königl. Württ. Hofbank.
Anfang der zwanziger Jahre zog die Familie Köhler nach Hedelfingen in die Schwanenstraße Nummer 1. Ernst lebte ein ganz normales und unauffälliges Leben. Sein Verhalten hat sich aber 1932/33 zunehmend verändert, bis es für die Familie unübersehbar war, dass Ernst sehr krank ist. Es blieb der Familie keine andere Wahl, als Ernst ins Bürgerhospital einweisen zu lassen.
Ernst war, mit Unterbrechungen, immer wieder im Bürgerhospital oder im Christophsbad. Dort schrieb er viele Briefe, von denen die meisten nie abgeschickt wurden.
Auszug aus einem Brief an seinen Bruder, geschrieben am 21. November 1934 vom Bürgerhospital Stuttgart, kurz vor seiner Einweisung auf die Weissenau:

Lieber Bruder Wilhelm!
 [ …] Glücklich wäre ich, wenn ich eine dauernde Arbeit bekommen könnte, um dem Staate und dem Volke noch nützlich sein zu können! […]
Nun schließe ich mit herzlichen Grüßen, auch an die Geschwister in tr. Liebe
Dein Bruder
Ernst

Ernst Ferdinand Christian KöhlerAm 08.12.1934 wurde Ernst Köhler in die Heilanstalt Weissenau bei Ravensburg verlegt. Dort besuchte ihn Wilhelm, mein Vater, regelmäßig.
Wilhelm reiste nochmals im Juli 1940 mit dem Zug von Stuttgart nach Ravensburg, um seinen Bruder auf der Weissenau zu besuchen – nicht ahnend, dass dies sein letzter Besuch sein sollte. Dort machte Wilhelm im Park der Klinik dieses (letzte) Foto von seinem Bruder Ernst.
Datiert vom 08.09.1940 bekam Wilhelm, völlig unvorbereitet, die Sterbeurkunde mit der Nr. 284 seines Bruders Ernst – aus der Landespflegeanstalt Brandenburg a.H., mit folgendem Begleitschreiben:
“in Erfüllung einer traurigen Pflicht müssen wir Ihnen heute leider mitteilen,[…] dass Ihr Bruder am  8. September 1940 unerwartet infolge einer akuten Stauungsbronchitis und Lungenentzündung mit anschließender Kreislaufschwäche verstorben ist, […] alle unsere Bemühungen, den Patienten am Leben zu erhalten, waren leider ohne Erfolg,[…] mussten wir die sofortige Einäscherung veranlassen, um einer Verbreitung von Infektionskrankheiten entgegenzutreten”
Heil Hitler!
Dr. Rieper

Nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen war Ernst Köhler zu diesem Zeitpunkt bereits schon 2 Wochen tot. Vergast in Grafeneck. Das Samariterstift Grafeneck war bis Herbst 1939 in kirchlicher Trägerschaft. Dann wurde es von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, in eine Mordanstalt mit Gaskammer umgebaut.
Der wirkliche Todestag und Ort war der 22. August 1940 in Grafeneck.
Nach Kriegsende, am 17. Dezember 1945 erstattete Wilhelm bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart Strafanzeige gegen Dr. Rieper wegen vorsätzlicher Tötung.
Damit begann für meinen Vater der lange, zermürbende Weg der Anklage, der ihn im Jahr 1965 veranlaßte, folgende Zeilen an die Zentralstelle für NS-Verbrechen Ludwigsburg zu schreiben:
nach einer langen Pause erhielt ich von der Staatsanwaltschaft Stuttgart den Bescheid, dass dieser besagte Dr. Rieper unauffindbar sei. Ich habe aber den Eindruck, dass man in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft diese Gewaltverbrechen nicht wirklich verfolgte” 
23. Juni 1969  Schreiben vom Generalstaatsanwalt in Frankfurt an Wilhelm:
Dr. Bunke (alias Dr. Rieper) wurde von dem Schwurgericht in Frankfurt aus subjektiven Gründen wegen angeblich nicht hinreichend nachgewiesenem Unrechtsbewusstseins freigesprochen. […] Ich habe gegen dieses Urteil Revision eingelegt, über die der Bundesgerichtshof in Karlsruhe noch nicht entschieden hat

Wilhelm war fassungslos über dieses Urteil. Er war verbittert über die deutsche Rechtsprechung, doch er bemühte sich weiter um die Wiederaufnahme des Verfahrens.

Zufällig stieß er am 29. Januar 1986 beim Lesen der Zeitung auf folgenden Pressebericht (dpa) mit der Überschrift: “Beginn des letzten Euthanasie-Prozesses”. Es ging nochmals um den Arzt Dr. Bunke alias Dr. Rieper und noch zwei weitere Mordärzte: “Damit zeichnete sich schon am ersten Verhandlungstag ab, dass das Gericht Mühe haben wird, angesichts des Gesundheitszustands und des Alters der Angeklagten das Verfahren zu Ende zu bringen.”  (alle drei Ärzte waren zu dieser Zeit 71 und 72 Jahre alt).  
1989 starb mein Vater mit 92 Jahren. Er blieb bis zu seinem Tod im Unklaren, was wirklich mit seinem Bruder Ernst geschehen ist, wo und wie sein Bruder umgebracht wurde.

Die ganze Wahrheit konnte ich erst im Jahr 2000 nach weiteren jahrelangen Recherchen bekommen.

Mit diesem “Stolperstein” zum Gedenken an Ernst Köhler vollende ich das begonnene Werk meines Vaters – die Suche nach der ganzen Wahrheit und Gerechtigkeit – und gebe meinem Onkel seinen Namen und seine Würde zurück.

Gekürzte und überarbeitete Fassung nach einem Bericht von Goswinde Köhler-Hertweck.

Eine ausführlichere Darstellung und weitere Informationen finden sich im Buch von Harald Stingele (Hg.): Stuttgarter Stolpersteine: Spuren vergessener Nachbarn – Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken. Markstein-Verlag 2006. 
Ganz nebenbei bekommt der Leser anhand zahlreicher Dokumente einen Einblick in die Rechtsprechung der deutschen Justiz zwischen 1945 und 1985.